Blick auf Berge, 1942

Medizinische Anthropologie

Bereits in den 20er Jahren veröffentlichte V. v. Weizsäcker in der von M. Buber, J. Wittig und ihm selbst herausgegebenen Zeitschrift „Die Kreatur“ drei Texte 1, die er als „Stücke einer Medizinischen Anthropologie“ bezeichnete. Eines seiner letzten Bücher (1951) trägt den Titel „Der kranke Mensch“ - versehen mit dem Zusatz „Eine Einführung in die Medizinische Anthropologie“ 2. V. v. Weizsäcker verstand also das, was er „Medizinische Anthropologie“ nannte, in der Zeit zwischen den Weltkriegen vor allem als seinen Beitrag als Arzt zu einer Rückbesinnung auf den Menschen, der durch seine naturwissenschaftliche Beschreibung allein nicht hinreichend aufgefasst werden konnte und dessen Beschreibung daher die Einbeziehung psychologischer, philosophischer und theologischer Aspekte erfordere. In derselben Zeit hatte er Kontakte zu zwei der bedeutendsten Begründer einer Philosophischen Anthroplogie, M. Scheler und H. Plessner. Auf deren Einladung hin hielt er 1927 bei der Kant-Gesellschaft in Köln einen Vortrag „Über medizinische Anthropologie“.

Der ausschließlich naturwissenschaftlich orientierten Medizin dagegen hielt er vor, die Krankheit auf etwas durch die erhobene Daten Mess- und Zählbares zu reduzieren. Er knüpft ausdrücklich an seinen Ausführungen zu den Begriffen „Gestaltkreis“ und „Bipersonalität“ an (vgl. die entsprechenden Darstellungen dort).

„Es ist gleich falsch zu sagen, die im Gestaltkreis verbundenen Menschen seien zwei Wesen, wie, sie seien ein Wesen. Der Lebensvorgang zählt nicht mit Zahlen.“ 3.

Dabei blieben biographische Zusammenhänge, aus denen eine Krankheit hervorgeht, unberücksichtigt (vgl. hier die Darstellung zu Gesundheit, Krankheit und Wahrheit.). Krankheit habe stets etwas mit einer Unwahrheit zu tun. Diese aufzudecken sei eine gemeinsame Aufgabe im Gespräch zwischen Krankem und Arzt. In ihm dürfe es keine übergeordnete Position des Arztes gegenüber dem Kranken geben. „Denn er ist weder Führer noch Deuter, noch Weiser, sondern er ist ein Arzt, d. h. kein Bewirker, sondern ein Ermöglicher; er steht nicht über der Entscheidung, sondern mit dem Kranken in der Entscheidung. 4.

V.v.Weizsäcker setzte sich dafür ein, auch zur Therapie körperlicher Erkrankungen an der Psychoanalyse Freuds orientierte, psychotherapeutische Gespräche einzusetzen. Auf sein Drängen hin wurde – trotz erheblicher Widerstände von Seiten der Psychiatrie – in Heidelberg die erste Psychosomatische Klinik Deutschlands gegründet und deren Leitung seinem Schüler A. Mitscherlich übertragen. Die Psychosomatik bildete für V. v. Weizsäcker jedoch nur eine Übergangsstation auf dem Weg zu einer grundlegenderen Reform der Medizin insgesamt. In ihr sollte nicht mehr alternativ zwischen physisch bedingten und psychosomatischen Erkrankungen unterschieden werden, sondern immer beide Seiten der Krankheit, sowohl die physische als auch die psychische beachtet werden, um beide in die ärztliche Therapie einzubeziehen.

Darüber hinaus sollte die Psychotherapie – V. v. Weizsäcker spricht in seinen sozialmedizinischen Schriften daher von „Situationstherapie“ - nicht nur den einzelnen Kranken behandeln, sondern auch sein soziales und berufliches Umfeld beachten. Er kann damit als ein Wegbereiter der Familientherapie sowie der Sozialmedizin angesehen werden. Allerdings wollte er keine spezielle Therapieform oder eine spezielle Fachrichtung für ganz spezielle Kranke einer ansonsten unveränderten Medizin hinzufügen, sondern die Allgemeine Medizin grundlegend in diesem Sinne reformieren. Autoren wie H. E. Richter und K. Dörner verdanken ihm - auch wenn er in ihren Schriften nur selten erwähnt wird - wesentliche Anregungen.

  1. Der Arzt und der Kranke, Die Schmerzen, Krankengeschichte, alle abgedruckt in GS, Bd. 5
  2. GS, Bd. 5
  3. GS, Bd.5, S. 189
  4. GS, Bd. 5, S. 192