Blick auf Berge, 1942

Funktionswandel

Bereits in den frühen, sinnesphysiologischen Schriften der 20er Jahre kritisiert V. v. Weizsäcker die Vorstellung neurologischer Funktionen wie der des Reflexes oder der Sinnesschwelle als elementarem, körperlich determiniertem, unveränderlichem Ablauf1. Stattdessen untersucht er gezielt die Wandelbarkeit beispielsweise der Druck­sinnes­schwellen2. Er führt jedoch nicht zusätzliche psychologische Faktoren quasi von außen eingreifend in den körperlichen Vorgang ein. Eine solche Argumentation wäre unweigerlich mit allen Problemen des Leib-Seele-Dualismus, den er auch in dieser Form grundsätzlich ablehnt, verbunden. Stattdessen untersucht er experimentell verschiedene räumlich-zeitliche Reizgestalten, die als unterschiedliche Situationen vom Organismus mit unterschiedlichen Reaktionen beantwortet werden. Aber auch den Anstieg einer Drucksinnesschwelle bei Anstieg des Drucks und schnellerer Abfolge der Einzelreize fasst er nicht als körperlich-mechanische Änderung der Schwellenfunktion, wie die klassische Sinnesphysiologie dies über den Begriff der 'akzessorischen Bedingungen' angestrebt hat.

Für Weizsäcker ist dieser Wandel einer Funktion (also einer Drucksinnesschwelle oder eines Reflexes) kein Automatismus, sondern selbst wieder eine Funktion, ein Funktionswandel, mit einem situativen oder biologischen Sinn.

„All dies zusammengenommen berechtigt zu dem Satze, dass jeder Schwellenwert immer zugleich ein spezifischer biologischer Situationswert für ein Sinnesorgan ist.“3

Der Bezug zur Pathologie der Sinne und der Reflexe bekommt somit für Weizsäcker eine nahezu umgekehrte Bedeutung: Nicht das Normale ist der Reflex, der Automatismus, und die Störung die Abweichung von der Norm, sondern das Erstarren in einer unflexiblen Regelhaftigkeit wird zum Kennzeichen des Pathologischen.

Reflex nur eine Abstraktion für eine ziemlich spezielle Verhaltungsweise

„Das Häufige und Interessante ist der Nachweis, dass die Funktion des Reflexbogens im zentralen Abschnitt abhängig ist von suprareflektorischen Bedingungen, die hemmend, fördernd und wandelnd eingreifen. Diese Bedingungen sind aber selbst wieder recht verschiedener Art und so groß an Zahl, dass von vornherein der Gedanke auftaucht, diese sog. akzessorischen Bedingungen seien überhaupt das Wesentliche, der Reflex selbst aber sei nur eine bestimmte Abstraktion oder Abkürzung für eine ziemlich spezielle Verhaltungsweise, nämlich die, bei welcher eine relativ grobe Gesetzmäßigkeit oder Konstanz von Reizerfolgen eintritt – ein biologischer Fall, der für die Lebensvorgänge von ziemlich untergeordneter, ja sogar bedenklicher Bedeutung ist.“4

In seinem Buch „Der Gestaltkreis“ schließlich beschreibt V. v. Weizsäcker einen Versuch, bei dem ein Stehender mit einem Korb am Arm hängend, qualitativ ganz unterschiedlich reagiert – also einem qualitativen Wandel der motorischen Antwort, einem „Funktionswandel“ vom Armzucken bis zum Ausgleichsschritt nach vorne – wenn ihm lediglich quantitativ unterschiedliche Gewichte in den Korb geworfen werden.5 Das, was V. v. Weizsäcker später die „Einführung des Subjekts“6 nennt, darf daher nicht missverstanden werden als ein aus der Philosophie oder Psychologie in die Medizin additiv eingefügter Faktor, sondern eine in der unbewussten leiblichen Antwort eines Organismus auf eine bestimmte biologische Situation schon immer angelegte Individualität, die den Funktionswandel auch von außen beobachtbar mitgestaltet.

  1. Weizsäcker, V. v. (1922), Neuere Forschungen und Anschauungen über Reflexe und ihre physiologische Bedeutung, abgedruckt in Gesammelte Schriften (GS), Bd. 3, S. 177 – 188)
  2. Weizsäcker, V. v. (1923), Über den Funktionswandel, besonders des Drucksinns, bei organisch Nervenkranken und über Beziehungen zur Ataxie, GS Bd. 3, S. 203 - 219
  3. Weizsäcker, V. v. (1926), Einleitung zur Physiologie der Sinne, in: GS Band 3, S. 325 - 428
  4. Weizsäcker, V. v. (1939), Die Tätigkeit des Zentralnervensystems, in: GS Band 3, S. 555f
  5. Weizsäcker, V. v. (1940), Der Gestaltkreis – Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen, in: GS Band 4, S. 77 – 337. Der hier geschilderte Versuch findet sich auf S. 102
  6. Ebenda, S. 295ff