Blick auf Berge, 1942

Gesundheit, Krankheit und Wahrheit

Ohne Beschwerden gehen wir intuitiv davon aus gesund zu sein. Das empfinden wir als unseren Normalzustand und meinen erst durch eine pathogene Störung krank zu werden: Wenn wir stürzen, ein Krankheitserreger uns befällt oder wir auf ein traumatisches Erlebnis mit einer posttraumatischen Belastungsstörung reagieren.

V. v. Weizsäcker definiert Gesundheit und Krankheit grundlegend anders. Seine Schrift „Der Gestaltkreis“ beginnt mit dem Gegensatz von mechanischer und Selbstbewegung. Es bestehe ein grundsätzlicher Unterschied zwischen einer rollenden Kugel, die eine andere anstößt und einem aufgeschreckt davonfliegenden Schmetterling. Gerade das Fehlen einer äußeren Bewegungsursache gelte uns als der Nachweis der Bewegung eines Lebewesens. Wir sagen: Es bewegt sich, also lebt es.

Diese Selbstbewegung sei daher nicht rein mechanisch, sondern nur durch die „Einführung eines Subjekts“ zutreffend zu beschreiben. In seiner Schrift „Anonyma“ 1 benennt V. v. Weizsäcker weitere Konsequenzen seiner Einführung eines Subjekts in die Medizin. Es enthalte zwangsläufig einen „sinnvollen Widerspruch“, der nur „antilogisch“ zu beschreiben sei: Es verändere sich permanent und bleibe doch dasselbe 2: Dies bedeute, „ … dass eine Welt mit Subjekt antilogisch sein muss. Man kann diese Erkenntnis nicht gewinnen, wenn man das Subjekt leugnet. Sie wird notwendig, wenn man das Subjekt in die Welt 'einführt'; richtiger: das Subjekt anerkennt.“ 3.

Diese Darstellung jeder Lebensbewegung als antilogisch und die Anerkennung des Subjekts haben entscheidende Konsequenzen für V. v. Weizsäckers Auffassung von Gesundheit und Krankheit. Aus den in den Schriften V. v. Weizsäckers dargestellten seien hier nur einige der grundlegendsten angeführt.

  • Wir befinden uns nicht alternativ wechselnd in Zuständen der Gesundheit oder Krankheit, sondern schwanken kontinuierlich zwischen unterschiedlich stark ausgeprägten, leibseelischen Vorgängen, die sich einerseits als gesund, andererseits als krank auffassen lassen. Wir sind nicht gesund oder krank, sondern immer in jenem antilogisch widersprüchlichen Sinne sowohl gesund als auch krank. Mal überwiegt das eine, mal das andere.
  • Jede Krankheit enthält eine weitere, nur antilogisch darstellbare Zweiseitigkeit: Sie ist nicht alternativ entweder psychisch oder somatisch bedingt, sondern enthält immer beide Aspekte. „Nichts Organisches hat keinen Sinn, nichts Psychisches hat keinen Leib.“ 4
  • Jede Definition von Gesundheit und Krankheit, sowie ihre Entstehung im konkreten Menschen erfasst kein isolierbares Einzelphänomen. Sie steht immer in einem historischen, gesellschaftlichen Zusammenhang. „Jetzt nämlich müssen wir dem Rechnung tragen, dass jede individuelle ärztliche Behandlung nach ihrer besonderen Art ein Beitrag zur politischen Gesellschaft ist …. Es genügt also nicht einzusehen, dass das, was Außen ist, auch Innen ist, sondern das, was persönlich ist, auch allgemein ist, und das was allgemein ist, auch persönlich ist.“ 5

"Jene Gesundheitsfabrik aber wird zum Handlanger des ganzen Verfahrens."

Diese Sätze mögen zunächst recht abstrakt klingen. V. v. Weizsäcker hat sich jedoch bereits in den 20er Jahren gezielt durch Besuche in Fabriken über die dortigen pathogenen Arbeitsbedingungen informiert. Die folgenden Sätze haben sicherlich auch heute nichts an Aktualität verloren: „Eine weitere Überlegung ist aber ein sehr starkes Argument für einen Angriff auf die überlieferte Medizin. Wenn diese sich in eine Gesundheitsfabrik vollends verwandelt, dann ist das Produkt eine Fertigware, mit der der Käufer anfangen kann, was er will. Er kann das aber meist nicht, weil Wirtschaft, Staat, Wehrdienst seine Arbeitsfähigkeit für ihre Absichten verwenden und diese Verwendung auch mit besonderen Gesetzen erzwingen. Der mit Arbeitsfähigkeit gleichgesetzte Begriff der Gesundheit schließt also ein, dass die Gesundheit etwas beliebig Verwertbares sei. Damit wird nun der Gesunde aber von der Mitwirkung an dem Zweck des Arbeitslebens ausgeschlossen. Jene Gesundheitsfabrik aber wird zum Handlanger des ganzen Verfahrens.“ 6

V. v. Weizsäcker forderte daher, Krankheit nicht nur als etwas möglichst schnell zu Beseitigendes aufzufassen, sondern auch als die Chance eine leibseelische Krise für die Wandlung zu etwas Neuem zu nutzen. An die Stelle eines „Weg damit“ müsse ein „Ja, aber nicht so“ treten. „Ja zu dem, was der Körper sagen will, und das 'aber nicht so' zu dem, wie er es sagt, in der stellvertretenden Form der Krankheit.“ 7 Nach einer solchen Deutung der Krankheit ist diese zwangsläufig etwas anderes als nur die Folge einer pathogene Einwirkung von außen. „Das Problem des Menschen in der Medizin […] ist, dass er, der Mensch, seine Krankheit, die als Teil seiner ganzen Biographie zu verstehen ist, nicht nur hat, sondern auch macht …“ 8. Umgekehrt ist dann Gesundheit nicht nur die Beseitigung krankmachender Faktoren, sondern die Überwindung einer leibseelischen Krise. Zu ihr gehört nach V. v. Weizsäcker in der Regel eine aus der Biographie des Patienten deutbare Wahrheit. Während der Patient ausweicht, sich dieser Wahrheit bewusst zu stellen, fordert sein Körper sie umso drängender ein.

„ … demzufolge die Gesundheit eines Menschen etwas mit seiner Wahrheit zu tun hat, seine Krankheit etwas mit seiner Unwahrheit.“ 9 Ihr kann aber auch der Arzt nicht ausweichen, wenn er den Körper des Menschen nicht nur reparieren, sondern eine Heilung des Kranken ermöglichen soll. Damit ist jedoch keinesfalls gemeint, dass der Arzt den Patienten zwingt, sich einer bereits feststehenden, von ihm als Außenstehenden erkannten und lediglich noch dem Patienten einsichtig zu machenden Wahrheit zu stellen. In dem Aufsatz „Wahrheit und Wahrnehmung“ entwirft V. v. Weizsäcker stattdessen einen grundsätzlich anderen Wahrheitsbegriff. Nur das gemeinsame Gespräch zwischen Krankem und Arzt könne diese Wahrheit überhaupt erst hervorbringen. „nicht: die Wahrheit sei unbekannt vorhanden und nun zu finden, sondern: sie sei möglich, aber erst zu verwirklichen“ 10 Insofern entsteht in der ärztlichen Therapie eine Verbindung der Unwahrheit des Kranken mit einer Unwahrheit des Arztes - beispielsweise, wenn er den Kranken nur mit Spritzen und Tabletten behandelt. Daher folgert V. v. Weizsäcker radikal: „Darüber hinaus aber gelingt ein Fortschritt ausschließlich dort, wo der Arzt selbst den Kanon seiner Haltungen gemeinsam mit dem Kranken einer Umgestaltung preisgibt.“ 11

  1. GS, Bd. 7, S. 41-89
  2. Ebenda, S. 85
  3. Ebenda, S. 51
  4. GS, Bd. 5, S. 314
  5. GS, Bd. 7, S. 287
  6. GS, Bd. 7, S. 287
  7. GS, Bd. 5, S.370
  8. Ebenda. S. 370
  9. GS, Bd.5, S. 179
  10. GS, Bd. 4, S. 384
  11. GS, Bd. 5, S. 188