Blick auf Berge, 1942

Experimente

Wissenschaftliche Experimente zu entwerfen, durchzuführen und die Bedeutung der Ergebnisse zu interpretieren, ist ein zentrales Anliegen V. v. Weizsäckers vom Beginn seiner wissenschaftlichen Laufbahn an bis zu ihrem Ende immer gewesen. Wenn er heute eher als Allgemeinmediziner und philosophisch orientierter Begründer einer Medizinischen Anthropologie wahrgenommen wird, so drohen dabei seine experimentellen Arbeiten – ohne die seine allgemeinmedizinischen Ansichten undenkbar wären – allzu sehr aus dem Blickwinkel zu geraten. Dabei wird vergessen, dass V. v. Weizsäcker keineswegs Naturwissenschaft durch philosophische Erkenntniskritik und psychoanalytische Therapie ersetzen wollte, sondern seine oft eingeforderte „Einführung des Subjekts“ eine innerwissenschaftliche Kritik begründen, sowie eine dem nicht nur von außen mechanisch bewegten, sondern sich zugleich selbst bewegenden Organismus entsprechende wissenschaftliche Erforschung des menschlichen Leibes ermöglichen wollte. Es ging ihm also um eine innerwissenschaftliche Grundlagenkritik zur Nutzung einer neuen Form der Erforschung des menschlichen Leibes.

Dieses Anliegen V. v. Weizsäckers zieht sich – abgesehen von seinen noch früheren herzmuskelphysiologischen Arbeiten – wie ein roter Faden durch seine wissenschaftlichen Experimentalstudien. In den 20er Jahren dominieren die sinnesphysiologischen Untersuchungen insbesondere der Drucksinnesschwellen, aus denen die Begriffe der „Schwellenlabilität“ und schließlich des „Funktionswandels“ hervorgingen. Da sich bereits in ihnen der Zeitfaktor als besonders bedeutsam herausstellte, folgen in den 30er Jahren Arbeiten, welche die raumzeitliche Orientierung des Menschen in seiner Umwelt gezielt untersuchen. Sie zählen zu den bekanntesten Arbeiten V. v. Weizsäckers, beispielsweise diejenigen unter Einsatz eines Drehstuhles. Die in ihnen unmittelbar verbundenen Wahrnehmungen (das Vorbeiziehen des den Drehstuhl umgebenden Pappzylinders, sowie der dabei auftretende Schwindel) und Bewegungen (motorische Halte- und Ausgleichsbewegungen oder ein Nystagmus) führen über den Begriff des Drehtürprinzip (Wahrnehmen und Bewegen bilden stets eine Zweieinheit, von der immer nur eines nach außen sichtbar ist, aber im drehenden Wechsel auch das andere erscheint) dann zu dem vielleicht bekanntesten Begriff V. v. Weizsäckers, dem „Gestaltkreis“.

Weiterentwicklung der Experimentalarbeiten ist ein Anliegen der VvW-Gesellschaft

Nahezu vergessen – obwohl keinesfalls weniger bedeutsam – sind dann die Arbeiten aus der Breslauer Zeit, sowie nach seiner Rückkehr nach Heidelberg mit Ende des 2. Weltkrieges. V. v. Weizsäcker und seine Mitarbeiter untersuchen in ihnen einerseits gezielt Wahrnehmung, die rein mechanisch im Sinne der Psychophysik unerklärbar bleiben, z.B. die „Polyphänen Farben“, andererseits einfache handwerkliche Tätigkeiten (das gemeinsame Sägen mit einer zweiseitigen Säge, das An- und Weiterschwingen eines Pendels oder Hammerschläge). Bei den letzteren Arbeiten wiesen V. v. Weizsäcker und seine Mitarbeiter anhand mechanischer Berechnungen detailliert nach, inwiefern die Versuchspersonen und der von ihnen bewegte Gegenstand – sowie sie miteinander (beispielsweise bei einem Nachlassen des Krafteinsatzes des einen, in Verbindung mit dem erhöhten Einsatz des anderen) – zu einem einzigen mechanischen Ganzen verschmelzen, in dem die einzelnen Kräfte nicht mehr streng voneinander isolierbar sind.

Im Folgenden sollen Nachbauten1 bzw. eine Weiterentwicklung2 dieser Experimentalarbeiten detaillierter dargestellt werden. Leider ist diese Forschung nach der Weiterführung durch V. v. Weizsäckers unmittelbare Schüler praktisch zum Erliegen gekommen. Es wäre ein dringendes Anliegen unserer Gesellschaft sie zu erneuern.

  1. in Kürze: Der Nachbau des Versuchs zu den „Polyphänen Farben“
  2. in Kürze: Die Weiterentwicklung der Pendelversuche zum gezielten Ballwurf