Blick auf Berge, 1942

Der Gestaltkreis

Das 1940 erschienene Buch „Der Gestaltkreis. Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen“ basiert auf einer etwa 20-jährigen sinnesphysiologischen und neurologischen Forschung V. v. Weizsäckers sowie seiner Mitarbeiter in Heidelberg. Anhand zahlreicher Experimente, teilweise durchgeführt im Selbstversuch, verdeutlicht V. v. Weizsäcker, dass Wahrnehmen nicht durch äußere Einwirkungen, denen der Organismus passiv ausgesetzt wäre, entsteht.

Indem wir einen Gegenstand in der Hand bewegen, spüren wir seine Form, Temperatur, Festigkeit und Gewicht. Wir lassen uns also im aktiven Umgang Objekte erscheinen. Dabei wirken Wahrnehmen und Bewegen nicht nur in einer zeitlichen Abfolge wechselseitig aufeinander1, sondern erfolgen gleichzeitig – wie die Rotation der beiden Seiten einer Drehtür. Nach außen ist nur eine Seite sichtbar, tatsächlich drehen sich jedoch beide gleichzeitig.

Das bedeutet also, dass

„....indem ich mich bewege, ich eine Wahrnehmung erscheinen lasse. Und dass, indem ich etwas wahrnehme, eine Bewegung mir gegenwärtig wird. ….. Die Wahrnehmung enthält nicht die Selbstbewegung als Faktor, der sie bedingt: Sie ist Selbstbewegung.“ (Weizsäcker, 1940)2

Aus diesem Verständnis von Wahrnehmen und Bewegen folgt eine bestimmte Form wissenschaftlichen Forschens. Wenn Wahrnehmen zugleich Bewegen ist, kann auch Erkenntnis nur aus Handeln hervorgehen. Das Vorwort zur 1. Auflage beginnt daher mit einem der berühmtesten Sätze V. v. Weizsäckers:

„Um Lebendes zu erforschen muss man sich am Leben beteiligen3.“

  1. Hierin besteht ein wesentlicher Unterschied zu kybernetischen Regelkreismodellen, die dem Prinzip einer – wenn auch rückläufigen – Kausalität und damit der Determiniertheit biologischer Abläufe nicht widersprechen. V. v. Weizsäcker dagegen geht im Gestaltkreis ausdrücklich von einem „biologischen Indeterminismus“ aus. Weizsäcker, Viktor v., Gesammelte Schriften Band 4, S. 275. Alle Zitate V. v. Weizsäckers werden hier nach den Gesammelten Schriften, erschienen im Suhrkamp Verlag in 10 Bänden, angegeben
  2. Weizsäcker, Viktor von: Der Gestaltkreis. Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen, Thieme Verlag, Leipzig 1940, Gesammelte Schriften Bd.4, S. 124
  3. Gesammelte Schriften Bd. 4, S. 83